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  • AutorenbildElvira Schmidt

Über Zeitspuren – und was diese mit meiner Kunst zu tun haben



Zeitspuren werden in unserer Gesellschaft oftmals als Makel gesehen.

Alles was Spuren auf einem Gesicht oder Körper hinterlässt, scheint unerwünscht zu sein.


Das gilt besonders und immer noch für Gesichter und Körper von Frauen. Denn diese werden - immer noch - häufiger kommentiert und kategorisiert, als männliche.

Achtet mal darauf, wenn Ihr fernsehschaut, in`s Kino geht, im Cafe sitzt oder auf einer öffentlichen Veranstaltung seid. Oder, was ist eigentlich mit der neuen Nachbarin?  Wie sieht die denn aus ? „Zu dick,  zu dünn,  zu ….zu… zu …“ Man braucht nicht weit zu blicken.

Über das Äußere von Frauen zu sprechen ist, immer noch häufiger und normaler, als das bei Männern der Fall ist. Das ist jedenfalls meine Beobachtung.


Neulich habe ich eine Weiterbildung besucht und der Dozent hat uns gebeten, einen Online Shop auf unserem PC zu öffnen. Es war der Online Shop einer seiner Kunden. Es ging um SEO, also Suchmaschinenoptimierung.

Bis zu diesem Zeitpunkt, hatte ich natürlich gewusst, dass es Schönheitsbehandlungen gibt, die mit Spritzen und Injektionen hantieren. Und dementsprechende Eingriffe: OP`s die Schnitte setzen, straffen, wegnehmen, auffüllen.


Nach diesen Eingriffen, sehen die Kundinnen, denn auch hier sind es noch zumeist Frauen, die sich für solche Eingriffe entscheiden, längere Zeit so aus, als wären sie gestürzt oder in eine massiv gewalttätige Auseinandersetzung geraten.

Grün und Blau für Wochen.

 

Auf das, was mich erwartete, als ich diese Homepage öffnete, war ich nicht gefasst.

 

Eine auf den ersten Blick unüberschaubare Menge an Menüseiten, Kategorien und Rubriken.

Unter anderem gab es dort Nadeln mit Fäden, die man sich unter die Haut ziehen lassen kann, um diese zu straffen. Diese Fäden lösen sich nach mehreren Monaten wieder auf d.h. man muss Nachschub kaufen und die Behandlung wiederholen lassen.

Desweiteren gab es unzählige Ampullen, die man sich ebenfalls spritzen lassen konnte. Es war wichtig, dies regelmäßig und immer wieder, in gewissen Intervallen, zu tun.

 

Je mehr ich mich durchklickte, denn dieses ganze Nadel-, Faden- und Ampullenuniversum, nahm mit jeder Unterseite, die ich öffnete, neue ungeahnte Ausmaße an, desto mehr spürte ich einen geradezu inneren körperlichen Schmerz, der mich mehr und mehr erstarren ließ.

Und in mir bäumte sich geradezu die Frage auf:

 

Was bringt um Himmels willen vor allem Frauen dazu, sich und ihrem Körper so etwas anzutun ?

Und vor allem für wen tun sie es wirklich?


Ich wiederhole diese Frage nochmal:

„Was bringt um Himmels willen, vor allem Frauen dazu, sich und ihrem Körper, so etwas anzutun?

 

Für die Gesellschaft mit ihren Schönheitsnormen?

Für Social Media?

Für den (männlichen?) Blick?

Für ihren Selbstwert, der in diesem Universum fest mit dem äußeren Erscheinungsbild vernäht bzw. verklammert zu sein, zu sein scheint ?

 

Was passiert denn da eigentlich?

Etwas soll unsichtbar gemacht werden. Leben, gelebtes Leben soll unsichtbar werden.

Sonne, Regen, Stürme, Träume, Trauer, Wut, Stress, Ärger, Verzweiflung, Freude, Liebe und Hass.

All das hinterlässt Spuren.

Gemeinsam mit der Kollegin DER ZEIT.

All das sind gelebte Geschichten, die dann verschwinden.

 

Und hier schlage ich den Bogen zu meiner Kunst

 

Bei mir sind die Zeitspuren des Holzes kein Makel. Sondern genau diese Zeitspuren, sind meine Heldinnen. Neue Bilder und Motivwelten entstehen auf alten Brettern, die eine Geschichte mitbringen.

 

Neulich fragte ich eine Kundin, die gerade dabei war, sich das vierte Holzbild von mir zu kaufen und sich auf dem Weg durch`s Atelier bereits in das fünfte Holzbild verliebt hatte…

 

"Kannst Du mir sagen, was Dich an meiner Kunst so anspricht und so berührt?"

 

Sie schaute sehr lange und ich fuhr meine derzeitigen innere Geschwindigkeit kurzzeitig massiv herunter.

Schließlich sagte sie sinngemäß:

„Mir gefällt unheimlich, dass das Ausgangsmaterial eine Vergangenheit hat, etwas Gelebtes. Und was Du machst ist, mit dem was da ist, etwas zu tun und Dich davon leiten zu lassen.“

Sie sprach noch, um einiges länger, über die Motive, die sie so sehr liebe. Die Wesen und besonders die Tiere. Deren Form, Lebendigkeit & Ausstrahlung. Die Farben und die Kombination von Materialien.

 

Um dann mit dem Satz zu enden:

"Das, was Du machst, ist wirklich etwas ganz Besonderes."


Ganz tief sickerten diese Worte in mein Herz.

(Und danke an dieser Stelle von Herzen für dieses Feedback und damit für jedes Feedback).


Und genau deshalb, sehe ich meine Kunst auch als Statement für den unschätzbaren Wert von Zeitspuren.

 

Zurück zu besagtem Onlineshop.

Ich wollte mir diesen ursprünglich nochmal ansehen. Bestimmt, habe ich den Namen in meinen Unterlagen notiert.

Bis heute, habe ich es nicht getan.

Und ich beschließe jetzt und an dieser Stelle, dies auch nicht mehr zu tun. Ich lasse ihn bewusst in der Versenkung verschwinden. Er soll nur noch ein Erinnerungsschatten sein, der mir einen besonders drastischen Impuls für diese Kolumne gab.

 

Und nun bitte ich Euch: Schaut liebevoll auf Euch und Eure Zeitspuren.


Denn sie erzählen von Euren Errungenschaften. Von Euren Kämpfen und Siegen, von Sonne und Sturm, von Liebe und Hass, von Traurigkeit und Lachen.

Und wenn man davon die Summe zieht:

Von wahrer Lebendigkeit.

 

Sie sind Zeugen Eures Weges.

Eures ganz persönlichen Weges.

Lasst sie Dasein und streicht liebevoll darüber.

Denn nur das glättet unsere Seelen wirklich.

 

Ich versuche es auch - jeden Tag.

 

Oder, um es mit einem Zitat zu sagen, das mir meine italienische Freundin (Liebsten Dank Xenia!), neulich zu meinem 50. Geburtstag schenkte:

„Lascami tutte le rughe, non me ne togliere nemmeno una.

C`ho messo una vita a farmele”. Anna Magnani


Frei übersetzt:

„Lass mir alle meine Falten. Entferne nicht eine einzige. Ich habe ein Leben gebraucht, um sie zu bekommen.“



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